Gastbeitrag: Einwanderungesellschaft: Warum wir mehr Preußen wagen sollten!

In der Debatte um Migration und Identität warnt der frühere CDU-Generalsekretär Peter Tauber vor einer „Leitkultur der Abgrenzung“. Er fordert ein neues Leitbild.

Sind Sie drauf reingefallen? Empörung aufgrund des Wortes Preußen? Hier geht es nicht um den viel beschworenen Militarismus, sondern um das geistige Erbe Preußens: Kant, Clausewitz und der Freiherr vom Stein. 

Deutschland sucht wieder nach sich selbst. Nach Jahren der Krisen, nach Pandemie, Migration, Kriegen in Europa, nach Kulturkämpfen um Identität und Zugehörigkeit, steht eine alte Frage neu im Raum: Was hält uns zusammen?

Die Leitkultur als Abwehrformel gegen Veränderung

Der Ruf nach einer „deutschen Leitkultur“ taucht in regelmäßigen Abständen wieder auf – meist als Abwehrformel gegen Veränderung. Dabei geht es nicht um Folklore oder Lederhosen. Es geht um Orientierung und eine Kultur der Verbindlichkeit: Was gilt für alle? Es geht um die Frage, wie ein Land, das längst Einwanderungsland ist, gemeinsame Werte und Ziele formulieren kann, ohne auszuschließen.

Peter Tauber war von 2013 bis 2018 Generalsekretär der CDU und von 2018 bis 2021 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Verteidigung
© Stephan Wallocha

Wir brauchen keine Leitkultur der Abgrenzung, sondern ein Leitbild, das Zusammenhalt schafft. Eine Haltung, die die Wirklichkeit anerkennt: Deutschland ist vielfältig – und das war es übrigens immer.

Migration und Friedrich der Große – pragmatische Toleranz

Schon das alte Preußen, das so gern als Inbegriff deutscher Strenge gilt, war ein erstaunlich offenes Projekt. Fast die Hälfte der Berliner zur Zeit des Großen Kurfürsten waren Franzosen. Friedrich der Große ließ Hugenotten, Juden und Katholiken siedeln und versprach: „Wenn Mohammedaner kommen, werden wir ihnen Moscheen bauen.“ In seiner pragmatischen Toleranz lag ein Selbstbewusstsein, das vielen heutigen Debatten fehlt.

Wer dazu gehören will, kann es – durch Mitwirkung

Wer dazugehören wollte, konnte es – durch Mitwirkung, nicht durch Abstammung. Der Historiker Michael Salewski nannte Preußen deshalb den „melting pot Europas„. Ein Staat, der sich nicht durch Ethnie, sondern durch Haltung definierte.

Diese Haltung brauchen wir wieder. Denn Deutschland verändert sich – ob wir wollen oder nicht. Zwischen 1954 und 2006 sind 37 Millionen Menschen eingewandert, ihre Kinder und Enkel sind längst Teil dieses Landes. Und trotzdem fällt es uns schwer, sie selbstverständlich „Landsleute“ zu nennen. Dabei gilt, was Jakob Grimm schon im 19. Jahrhundert schrieb: „Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, die dieselbe Sprache sprechen.“

Das muss zum deutschen Leitbild gehören

Ein modernes deutsches Leitbild muss sich deshalb um das Gemeinsame drehen: um Sprache, Bildung, Rechtsstaat, Demokratie – und um Verantwortung füreinander. Denn ohne Verantwortung zerfällt Freiheit in Beliebigkeit.

Friedrich der Große formulierte das als moralischen Auftrag: „Pflicht eines jeden guten Bürgers ist es, dem Vaterland zu dienen, daran zu denken, dass er nicht allein für sich auf der Welt ist, sondern dass er zum Wohl der Gesellschaft arbeiten muss.“

Diese Pflicht ist keine Last, sondern die Bedingung für ein funktionierendes Gemeinwesen. Wir werden die Krisen unserer Zeit also nicht nur durch gute Politik – was immer das auch ist – überwinden, sondern wir sind als Bürgerinnen und Bürger selbst gefordert. Helmuth James von Moltke, Widerstandskämpfer gegen Hitler, formulierte 1944: „Die Freiheit des Einzelnen ist als Vorleistung an den Einzelnen anzusehen, die ihn verpflichtet, sich um die Gegenleistung zu bemühen.“ Das war die Übersetzung preußischen Geistes im 20. Jahrhundert. Und heute?

Freiheit verlangt Bindung. Und diese Bindung entsteht nicht durch Herkunft, sondern durch Haltung. Sie entsteht dort, wo Menschen Verantwortung übernehmen – im Ehrenamt, in der Schule, in der Politik, in der Wirtschaft. Preußischer Pflichtgeist muss heute nicht nach Pickelhaube klingen. Er bedeutet schlicht: Nicht immer nur fragen, was der Staat für uns tut – sondern was wir für das Gemeinwesen tun können.

Eine inklusive Leitkultur heißt also nicht, alle müssten gleich werden. Sie heißt: Jeder darf nach seiner Façon glücklich werden – solange er die Regeln des Zusammenlebens respektiert. Sie heißt auch, dass wir Religion und Herkunft weder über- noch unterbewerten. Der Staat schuldet seinen Bürgern gleiche Rechte – und darf im Gegenzug gleiche Loyalität erwarten.

Angst ist keine Weltanschauung

Unsere Demokratie lebt von Menschen, die mitmachen. Von Bürgerinnen und Bürgern, die sich nicht in Angst oder Apathie zurückziehen. General Kurt von Hammerstein-Equord – hätten wir nur heute solche Generale – brachte es auf den Punkt: „Angst ist keine Weltanschauung.“

Doch zu oft ist Angst heute der Grundton unserer Debatten – Angst vor Wandel, Angst vor Vielfalt, Angst vor Verlust. Diese Angst lähmt uns. Dabei war Deutschland immer dann stark, wenn es sich verändert hat: nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, nach der Wiedervereinigung, in der europäischen Integration. Wir können Wandel gestalten – wenn wir uns nicht von ihm treiben lassen.

Das bedeutet auch, Geschichte nicht als Ballast, sondern als Werkzeug zu begreifen. Preußen war kein Paradies, aber ein Experiment: ein rationaler Staat, gegründet auf Vernunft, Bildung, Maß und Pflicht. Der Historiker Sebastian Haffner nannte ihn den „Vernunftstaat“. Ein Staat, offen für alle, „gleiches Recht für alle – und gleiche Pflichten, das auch“.

Das ist das Modell, das wir heute brauchen: ein demokratischer Vernunftstaat, der Freiheit ermöglicht und Zusammenhalt einfordert. Ein Land, das sich seiner Geschichte bewusst ist, ohne sich von ihr fesseln zu lassen.

Wenn Deutschland ein Leitbild hat, dann dieses: Wir sind nicht durch Abstammung verbunden, sondern durch Verantwortung. Nicht durch Herkunft, sondern durch Haltung.

Oder, um mit Theodor Fontane zu sprechen: „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben – aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.“

So sieht moderner Patriotismus aus

Ein moderner Patriotismus für ein vielfältiges Deutschland bedeutet, das Gemeinsame neu zu denken: als Auftrag, nicht als Abgrenzung. Das ist Leitkultur im besten Sinne. Und da dieses Wort in der Debatte verbrannt zu sein scheint, lasst uns von Leitbild reden. Und lasst uns endlich miteinander reden und nicht ständig empört Türen zuschlagen und Mauern bauen. Die haben übrigens mit Blick auf die Geschichte immer nur vorübergehend den gewünschten Effekt gehabt. Und ja – wir sollten uns trauen, mehr Preußen zu wagen.

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