Bücherherbst 2025: Für manche Menschen sind Bücher der Schlüssel zur Welt

Sprechen, Menschen, Kindergarten, das war alles nichts für stern-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz. Gerettet hat ihn der „Maulwurf Grabowski“. Ein Editorial-Bekenntnis.

Liebe Leserin, lieber Leser,

ein Buch hat mich gerettet. Ich meine das genauso dramatisch, wie es sich liest. Als kleiner Junge, gerade mal drei oder vier Jahre alt, war ich ein eher stilles Kind, genauer gesagt: ein fast restlos schweigsames. Kaum ein Wort brachte ich über die Lippen, auch mit Menschen wollte ich so wenig wie möglich zu tun haben. Den Besuch des Kindergartens stellte ich rasch ein (nachdem mich zwei Kinder eines Morgens beim Luftanhalten-Spiel beinahe umgebracht hätten, sprach ich nur fünf Worte zu meiner Mutter: „Ich gehe nicht mehr hin“). Kurzum: Ich wirkte, als ginge mich die Welt herzlich wenig an.

Gregor Peter Schmitz, Chefredakteur des sternMeine Eltern schleppten mich zu Ärzten, zu Entwicklungsexperten. War ich vielleicht zurückgeblieben? Allerdings ließ ich mir gern vorlesen, vor allem „Der Maulwurf Grabowski“, und als meine Mutter einmal eine Seite übersprang (vermutlich, weil sie die verdammte Geschichte nicht schon wieder in Gänze lesen wollte), sagte ich laut: „Du hast eine Seite übersprungen!“ Ich kannte den Text auswendig, ganz zurückgeblieben konnte ich nicht sein.

Diese lebensrettende Rolle haben Bücher seither für mich beibehalten, selbst wenn ich heute deutlich mehr spreche als früher. Damals kannte ich nach der Schule ein Ritual: Ich stibitzte einen Schokopudding mit Sahne, und während ich die köstliche Sahne sorgfältig in kleinsten Portionen abschleckte, las ich zu jedem einzelnen Löffel die liebste Stelle meines jeweiligen Lieblingsbuchs, immer wieder. Glück kann man nicht beschreiben? Oh doch, genau so.

Bücher sammeln ja, verleihen nein

„Die Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren, Oetinger Verlag, 240 Seiten, 16 Euro, ab 9 Jahren.
© Oetinger VerlagAus vielen Büchern wurden mehr Bücher, und aus mehr Büchern wurden noch mehr Bücher. Wann immer ich welche abgeben sollte, konterte ich mit einem Satz von Erich Kästner, den ich aufgeschnappt hatte: Bücher hätten Ehrgefühl – wenn sie verliehen würden, kämen sie nicht mehr zurück (hatte ich erwähnt, dass ich ein ziemlich altkluger Jugendlicher geworden war?). Bis heute kaufe ich leidenschaftlich gern Bücher, was bei Weitem nicht heißt, dass ich alle lese. Barack Obama sagte mal, dass er als US-Präsident am meisten vermisst habe, nicht mehr allein durch Buchläden streifen zu können. Nie fühlte ich mich ihm näher. Ich hasse in Buchläden übrigens, wenn ich angesprochen werde, ob man mir bei der Suche helfen könne. Echte Bücherfans suchen ja nicht, sie finden. Und schleppen heim, in die Bücherhöhle.

Ich bin mittlerweile Vater kleiner Zwillinge. Kennen Sie die Werbung für diese furchtbar teuren Patek-Philippe-Uhren, die man nicht wirklich besitze, sondern nur aufbewahre für die nächste Generation? Leider habe ich keine Patek-Philippe-Uhr, dafür aber jede Menge Bücher. Die könnte ich weitergeben, aber das ist nicht so einfach. Zum dritten Geburtstag hatten die Zwillinge sehr klar kundgetan, lieber ein lilafarbenes (Fritz) und ein gelbes Fahrrad (Franz) zu wollen. Ich versuchte, auf die Gepäckträger Bücher zu klemmen, klemmte mir dabei aber nur den Finger ein.

Das Buch des Lebens? Eine schwierige Frage!

Nun habe ich hier viel geschrieben, ohne jene Frage zu beantworten, die mir die wunderbaren Macher dieser stern-Sonderausgabe aufgetragen haben: Was ist das Buch meines Lebens?

Mich lässt die Frage immer hilflos stottern, als hätte ich in meinem Leben noch nie eine Zeile gelesen. Mir sind Leute verdächtig, die ein Lieblingsbuch nennen können, das sind oft Menschen, die auch sagen, sie läsen gern ein „gutes Buch“. Aber wenn ich ein Buch nennen müsste, wäre es „Die Brüder Löwenherz„, schon weil darin der Satz steht, man müsse manche Dinge tun, selbst wenn sie gefährlich seien, da man sonst kein Mensch sei, sondern nur ein Häufchen Dreck. Den Satz habe ich für die Zwillinge rausgeschrieben, auf eine Karte, und irgendwann kriegen sie die auf ihren Gepäckträger geklemmt, ohne dass ich mir den Finger einklemme.

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