Bundeswehr-Manöver in Hamburg: „Umzingelt von Freunden – das gilt nicht mehr“

Ein baltischer Staat wird bedroht und ruft die Nato zu Hilfe. Truppen bewegen sich über Hamburg gen Osten: In der Hansestadt übt die Bundeswehr ein inzwischen denkbares Szenario.

Nach nicht einmal 200 Metern ist Schluss. Gerade erst war die Kolonne vom Gelände des O’swaldkais im Hamburger Hafen losgerollt, da drängen zwischen Polizeiwagen und dem ersten Bundeswehr-Fahrzeug etwa 20 Menschen auf die Straße. „Stop“ steht jeweils in roten Buchstaben auf ihren Bannern. „Haut ab“ skandiert die Menschenmenge und „Zurück“.

Zwei Hubschrauber kreisen über der nächtlichen Szenerie, die vom Blaulicht immer wieder erhellt wird. Minutenlang steht ein riesiger Dingo-Transporter der Bundeswehr mit bollerndem Dieselmotor nur wenige Meter vor den Demonstrierenden. Dann rückt ein Einsatzkommando der Polizei dazwischen, auf dem Fußweg bezieht ein zweites Stellung. Schließlich drängen die Beamten die Protestierenden von der Straße.

Auf einer Grünfläche falten diese schließlich ordentlich ihre Banner zusammen. Denn die Männer und Frauen waren keine echten Demonstrierenden, sondern die erste Testhürde für die Soldatinnen und Soldaten auf ihrer Kolonnenfahrt durch die Hansestadt.

Bundeswehr übt Truppentransport durch Hamburg

Seit Donnerstag läuft in Hamburg das Manöver „Red Storm Bravo“. Mit der Militärübung probt die Bundeswehr die „zivil-militärische Zusammenarbeit“, also die Kooperation mit Polizei, Feuerwehr, Behörden und Unternehmen. 500 Soldatinnen und Soldaten sind dafür im Einsatz.

Oberstleutnant Jürgen Bredtmann, Sprecher der Bundeswehr in Hamburg, steht am Nachmittag zwischen einer Reihe von Feuerwehrautos und einer langen Kolonne aus Bundeswehrfahrzeugen am Rande eines Hafenbeckens und sagt: „Wir haben uns das Szenario im Januar überlegt: Ein baltischer Staat fühlt sich bedroht und bittet nach Artikel 4 des Nato-Vertrages um Konsultation. Wir müssen in der Lage sein, große Truppenkontingente der Nato zu verlegen – und der Gegner muss wissen, dass wir das können.“ Im „Operationsplan Deutschland“ spielt Hamburg mit seinem Hafen eine wichtige Rolle für große Truppenverlegungen.

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 hat sich auch die Bedrohungslage in Deutschland geändert. „Ich halte es für realistisch, dass wir eine Bedrohung durch Russland wahrnehmen“, sagt Kurt Leonards, Kommandeur des Landeskommandos Hamburg. Er verantwortet die militärische Seite des Manövers. „Russland testet, wie die Nato reagiert“, erklärt Leonards. Er denkt dabei an Drohnen und Kampfflugzeuge im Luftraum von östlichen Nato-Staaten und wohl auch an Zwischenfälle auf der Ostsee. „Dass wir ‚umzingelt von Freunden‘ sind, gilt nicht mehr.“ Daher sei diese Verlegeübung in den Nordosten des Nato-Gebietes notwendig.

Polizei Hamburg unterstützt die Bundeswehr

Auf der anderen Seite des Hafenbeckens steuern zwei Barkassen eskortiert von der Wasserschutzpolizei einen Anleger an. Mehrere Hundert Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gehen an Land. Als sie schließlich um das Hafenbecken herummarschiert sind, haben viele von ihnen ihre Schlauchschals bis unter die Nase hochgezogen – vielleicht zum Schutz vor dem kalten Wind, vielleicht zum Schutz ihrer Identität.

Entlang der Kaimauer stehen bereits 70 Bundeswehrfahrzeuge bereit: Geländewagen, Lkw, gepanzerte Truppentransporter, VW-Busse. Nach Einbruch der Dunkelheit sollen die Soldatinnen und Soldaten damit stundenlang durch Hamburg fahren. Nun aber heißt es erst einmal: die Fahrzeuge überprüfen und ihre Nummernschilder mit Sackleinen und Kabelbindern unkenntlich machen.

Erfahrungen sammeln und Probleme überwinden

Neben der Fahrerkabine eines kantigen, vierachsigen Lkw Multi 2 steht Stabsunteroffizier Frederick. Seinen Nachnamen möchte der 27-Jährige nicht nennen. Zwischen schwarzer Sonnenbrille und grünem Schal schauen nur seine Nase und ein Stück dunkelblonder Schnauzbart hervor. Auf seiner Uniform ist ein Abzeichen angeklettet: „A+ pos“ steht dort – seine Blutgruppe. „Das ist meine erste Übung in dieser Größe“, sagt der Kraftfahrer in die Mikrofone der versammelten Journalisten. „Ich will Erfahrungen sammeln.“ Aber er sieht auch, wo Probleme auftauchen könnten: „Wir müssen vorwärtskommen, aber auch die Abstände einhalten.“ Und auch die engeren Straßen bereiten ihm Sorgen. „Urbanes Gelände“ heißt das bei der Bundeswehr.

Einige Meter weiter hinten in der geparkten Kolonne steht Jörg Abel an einem VW-Bus mit rotem Kreuz auf Fahrertür und Flagge. Im normalen Leben ist er Facharzt für Anästhesie, nun nimmt er als Reservist und Flottillenarzt an „Red Storm Bravo“ teil. „Wir sind für die Realversorgung zuständig“, sagt Abel. Falls wirklich etwas geschieht – ob sich jemand am Stacheldraht schneidet oder ein Unfall in der Kolonne passiert –, Abel und seine Mediziner-Kollegen sind die ersten, die die Lage einschätzen. „Wenn nötig, übergeben wir die Patienten an Feuerwehr oder Rettungsdienst.“

„Red Storm Bravo“ dauert drei Tage

Am Freitag soll es bei „Red Storm Bravo“ um die Abwehr von Drohnen gehen. Am Samstag schließlich wird eine Detonation auf dem Werftgelände von „Blohm & Voss“ mit zahlreichen Verletzten das Übungsszenario sein. Doch jetzt geht es erst einmal darum, dass die Polizei schnell genug die Seitenstraßen der Route durch Hamburg sperrt, damit die Kolonne freie Fahrt hat.

Als die Bundeswehrfahrzeuge schließlich wieder anfahren, rollt die Kolonne mehr als vier Minuten an den Menschen am Straßenrand vorbei. Dreieinhalb Kilometer müsste die Fahrzeugschlange lang sein, haben sie im Landeskommando errechnet. Oben aus den Fahrerkabinen der Lkw ragen Soldaten hinter Maschinengewehren heraus. Nach dem Abbiegen verschwinden die letzten Rücklichter der Kolonne. Vor den Soldatinnen und Soldaten liegt noch eine lange Nacht.

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