Welchen Fehler sollten Sie vermeiden, wenn Ihr Schiff in Not gerät? Was hätte die „Titanic“-Katastrophe verhindern können? Angeberwissen über Unglücke auf hoher See.
Eines der beliebtesten Reiseziele der Deutschen, Ägypten, ist Schauplatz einer weltweit beispiellosen Unfallserie. Vor den Küsten des Roten Meeres sind in den vergangenen Monaten und Jahren mehr Tauchsafarischiffe auf Grund gelaufen, ausgebrannt und gesunken als im Rest der Welt zusammengenommen. Es gab zahlreiche Tote.
Ein Reporterteam von stern und RTL hat in einer monatelangen Recherche den Untergang der „Sea Story“ rekonstruiert und die Hintergründe der vielen Unfälle aufgedeckt: systematische Missstände und Sicherheitsmängel bei Betreibern wie Behörden der Militärdiktatur.
Die Geschichte der Schifffahrt ist reich an solchen Dramen, der Untergang der „Titanic“ ist durch einen Kinofilm mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio längst Popkultur. Sie ist außerdem reich an wundersamen Anekdoten, Mythen und interessanten Fakten. Hier haben wir zehn davon für Sie zusammengetragen.
1. Wie viele Schiffe gehen unter, und wie viele Menschen sterben auf See?
Es gibt keine Statistik, die noch jedes sinkende Fischerboot der Welt erfasst. Aber ein paar Zahlen gibt es doch, zumindest für Europa: 2023 gab es laut der European Maritime Safety Agency rund 2700 Schiffsunfälle und Zwischenfälle, bei denen entweder mindestens ein involviertes Schiff aus Europa stammte oder das Unglück in europäischen Gewässern passierte. Laut den Vereinten Nationen kamen im selben Jahr zudem 2573 Menschen bei der Flucht übers Mittelmeerums Leben oder gelten als auf See vermisst.
Nach Daten von Versicherungsunternehmen gingen 2024 nur 27 größere Handels- und Fischereischiffe auf See verloren. Damit ist die Zahl der gesunkenen Schiffe im vergangenen Jahrzehnt deutlich zurückgegangen.
Alles in allem, so betonen Experten, seien die meisten kommerziellen Schiffe sehr sicher. Schiffe, die regelmäßig in internationale Häfen einlaufen, werden kontinuierlich nach international geltenden Standards überprüft.
Anders ist es allerdings, wenn Schiffe meist nur nationale Häfen anfahren, wie das etwa bei Tauchsafarischiffen in Asien oder Ägypten der Fall ist. Da kann es passieren, dass Schiffe internationalen Standards nicht entsprechen und das erst durch einen Unfall deutlich wird.
2. Im Notfall nichts wie runter vom Schiff?Vorsicht Mythos!
Es gibt auf einem Schiff wohl kaum eine schlimmere Vorstellung, als zu merken, wie sich die Reling bedrohlich der Wasserkante nähert. Bei vielen Menschen setzt dann ein instinktiver Fluchtreflex ein: nichts wie weg! Nur – wohin?
„Bleiben Sie so lange wie möglich an Bord“, rät Ferenc John, stellvertretender Leiter der Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU). Tatsächlich ist es in vielen Fällen die beste Reaktion, sich aufs offene Deck zu begeben. Auf keinen Fall sollte man dem Instinkt folgen, sofort zu fliehen, und ins Wasser springen. „Der Ozean ist eine lebensfeindliche Umgebung“, sagt John. Zumindest für Menschen.
Immer wieder springen Passagiere nach Schiffsunfällen auf dem offenen Meer hektisch ins Wasser – und ertrinken, obwohl sich das Schiff noch stundenlang über Wasser hielt. Die meisten modernen Schiffe sind so konstruiert, dass sie einigermaßen kontrolliert untergehen. Zumindest dann, wenn sie wichtige Bedingungen und Sicherheitsstandards erfüllen.
3. Die Lebensretter: Auf diese Vorkehrungen kommt es im Notfall an
Erstens: Das Schiff verfügt über Vorrichtungen wie Schotten, die wasserdichte Abschnitte bilden und so verhindern, dass das eindringende Wasser ungehindert in andere Bereiche gelangt. Zweitens: Es stehen genügend Rettungsinseln, Hochsee-Schwimmwesten und andere Rettungsmittel zur Verfügung. Und drittens: Die Evakuierung verläuft geordnet, und die Passagiere steigen planmäßig in die Rettungsboote.
Die monatelangen Recherchen eines Reporterteams von sternund RTL haben aufgedeckt, dass viele Urlauberschiffe in Ägypten, einem Lieblingsreiseziel der Deutschen, diese Voraussetzungen nicht erfüllen.
Grundsätzlich aber, so sagt Professor Stefan Krüger vom Institut für Schiffssicherheit der TU Hamburg, sei die Evakuierung oft das größte Problem. „Häufig verlaufen schon die Übungen chaotisch.“
Meistens aus Unwissenheit, die in Panik mündet. Manchmal gingen havarierte Schiffe gar nicht vollständig unter, sagt auch BSU-Experte John. Entscheidend sei dabei, dass trotz eines Wassereinbruchs genügend wasserdichte Abteilungen vorhanden bleiben, die dem Schiff einen ausreichenden Auftrieb verleihen, um ein (vollständiges) Sinken zu verhindern.
4. Was der Untergang der „Titanic“ lehrt
Das wohl bekannteste Schiffsunglück der Welt – der Untergang der „Titanic“ – hätte nach Ansicht des Hamburger Professors Krüger deutlich weniger dramatisch ausgehen können. Der Dampfer sank 1912 auf seiner Jungfernfahrt von Southampton nach New York, nachdem er mit einem Eisberg kollidiert war, mehr als 1500 Menschen starben. Der entscheidende Grund für die vielen Toten war laut Krüger nicht, dass das Schiff zu schnell unterging, sondern dass es zu wenig Rettungsboote an Bord hatte.
Die „Titanic“ galt als unsinkbar, hatte für den Ernstfall viel zu wenig Rettungsboote an Bord. Mehr als 1500 Menschen starben bei ihrem Untergang
© stern-Montage: Illustration: Marta Kochanek / Gibson Kochanek, Foto: PA/PA Wire
Tatsächlich zeigt ein Blick in die jüngere Geschichte der Schiffsunfälle, dass Passagiere wie Crewmitglieder selbst dramatische Havarien überleben können.
So kollidierte 2012 das Kreuzfahrtschiff „Costa Concordia“ vor der toskanischen Mittelmeerinsel Giglio mit einer Felskette nahe der Küste. Von 4229 Menschen an Bord überlebten 4197 – 32 starben. Hätte der Kapitän des Schiffes, Francesco Schettino, sich korrekt verhalten, hätten womöglich alle überlebt.
5. Rob Konrad oder: die wundersame Rettung eines Footballstars
Eines der wenigen Ereignisse, bei denen ein Mensch nach einem Schiffsunglück dem Tod davonschwamm, ist der Fall des ehemaligen NFL-Profis Rob Konrad. Während eines Angel-Trips verlor er aufgrund einer Welle das Gleichgewicht und stürzte von Bord seines Luxus-Sportboots. Konrads Problem: Die Küste war rund 14 Kilometer entfernt, er war allein unterwegs, und der Autopilot fuhr sein Schiff einfach weiter.
Also sah er seine einzige Chance darin, zur Küste zu schwimmen. Tatsächlich gelang ihm das kaum Mögliche: in 16 Stunden. Der Gedanke an seine beiden Töchter habe ihn immer weitermachen lassen, sagt er hinterher. „Er hatte zwei Engel auf den Schultern“, sagte seine Frau im Fernsehen. Konrads wundersame Rettung ist einer der längsten bekannten Überlebenskämpfe auf See, die allein durch Muskelkraft gewonnen wurden.
6. Das wohl bekannteste Kapitäns-Sprichwort der Welt – und sein Wahrheitsgehalt
„Der Kapitän verlässt als Letzter das sinkende Schiff“ ist vermutlich das bekannteste Kapitäns-Sprichwort der Welt. Tatsächlich kann das Verhalten des Kapitäns im Notfall entscheiden, wer an Bord überlebt und wer nicht.
Aber: „Es kommt vor allem auf die Crew an“, sagt der Hamburger Professor Krüger. Eine klare Befehlskette sei entscheidend für eine effektive Evakuierung. Deshalb müsse der Kapitän so lange an Bord bleiben, bis auch der letzte Passagier sicher in einem Rettungsboot sitze. Dann hätten alle an Bord gute Überlebenschancen.
Versagen nach einem Unglück der Mensch oder die Hilfsmittel, kann es zu Dramen kommen, siehe Francesco Schettino.
Lange bevor alle Passagiere der „Costa Concordia“ evakuiert waren, hatte der Kapitän das havarierte Schiff verlassen. Die italienische Küstenwache erreichte ihn an Land über Handy. Der Einsatzleiter beschwor mehrfach den Kapitän: „Gehen Sie zurück an Bord!“ Doch Schettino weigerte sich. Am nächsten Morgen wurde er festgenommen und später zu insgesamt 16 Jahren Haft verurteilt.
7. Der Worst Case und die Urgewalt der Meere
Wenn auf hoher See ein Schiff kentert, also das Boot auf die Seite kippt, ist die Lebensgefahr für Passagiere vom ersten Moment an groß. Dann dringt in der Regel Wasser in kurzer Zeit mit hoher Geschwindigkeit und Kraft in den Innenraum des Schiffes. „Ein Meter hohes Wasser drückt auf jeden Quadratmeter so stark, als würde dort eine Tonne liegen“, sagt Professor Krüger von der TU Hamburg. Das Wasser habe dann eine solche Kraft, dass schon 30 bis 50 Zentimeter auf dem Boden eines Kabinengangs reichen, um das Öffnen der Türen unmöglich zu machen.
„Normalerweise sind bei einem Kenterunfall alle an Bord des Schiffes tot, weil niemand mehr rauskommt“, sagt Krüger. Die schwierige Orientierung verringert die Chance der Passagiere zusätzlich. Ein Schiff steht kopf oder liegt auf der Seite. Was eben noch die Seitenwände einer Kabine waren, ist plötzlich der Boden. Türen oder Notausgänge zu erreichen, kann schwer bis unmöglich werden.
Im Grunde gelte bei einem Schiffsunglück eine einfache Faustregel, sagt auch Experte John von der Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung: „Je schneller etwas passiert und je dramatischer es passiert, umso geringer ist die Überlebenswahrscheinlichkeit.“
8. „Estonia“, „Bayesian“, „Sea Story“ und andere Katastrophen
1994 kenterte auf der Ostsee eine Fähre namens „Estonia“. Aufgrund von schwerem Seegang war das Bugvisier des Schiffs weggebrochen, in kürzester Zeit drangen große Wassermassen in den Innenraum. Von 989 Menschen an Bord überlebten nur 137. Es gilt als das schlimmste Schiffsunglück im Europa der Nachkriegszeit.
Die „Bayesian“ galt als unsinkbar, trotzdem havarierte die Luxusyacht im vergangenen Jahr vor der Küste Siziliens. Sieben Menschen starben, unter ihnen der britische Milliardär Mike Lynch. Er hatte auf die Yacht geladen, um seinen Freispruch in einem Betrugsprozess zu feiern. Ihr Untergang gibt den Experten Rätsel auf. Ein vorläufiger Untersuchungsbericht aus Großbritannien kam zu dem Ergebnis, dass extreme Winde das Schiff zum Kentern gebracht hätten. Allerdings ermitteln die Behörden noch immer, ob auch menschliches Versagen zur Katastrophe führte.
Als Ende vergangenen Jahres im Roten Meer die „Sea Story“ kippte und sank, eine Luxusyacht für Tauchsafaris, starben elf der insgesamt 45 Urlauber, Tauchguides und Crewmitglieder. Unter ihnen drei Deutsche.
Es grenze an ein Wunder, dass es überhaupt Überlebende gab, sagt Professor Krüger. Denn eigentlich hätten alle Faktoren gegen die Passagiere und die Crew gestanden.
Das Schiff kenterte in kürzester Zeit, und nach Recherchen von stern und RTL fand offenbar keine geordnete Evakuierung statt. Wie sich aus den Akten der ägyptischen Staatsanwälte ergibt, die stern und RTL exklusiv vorliegen, hätte das Schiff niemals zu seiner letzten Fahrt aufbrechen dürfen. Warum, lesen Sie in einer aufwendigen Rekonstruktion, für die ein Reporterteam mehrere Monate recherchiert hat – auch undercover in dem autoritären Regime selbst.
9. Das spurlose Verschwinden eines Riesen. Der Fall „Stellar Daisy“
2017 verschwand der Tanker „Stellar Daisy“ im Südatlantik. Ein letzter Funkspruch meldete einen Wassereinbruch an die eigene Rederei. Kurz darauf riss der Kontakt ab.
Das mit Eisenerz beladene Containerschiff sank vermutlich innerhalb von Minuten. Von den 24 Crewmitgliedern wurden nur zwei lebend auf einem Rettungsboot gefunden.
Grund für den Unfall war wahrscheinlich ein Versagen der Schiffsstruktur aufgrund von Umbaumaßnahmen. Der Frachter brach regelrecht auseinander. Das 322 Meter lange Schiff ist bis heute eines der größten je untergegangenen Schiffe.
10. Das Wunder des Schiffskochs Harrison Okene
Im Jahr 2013 havarierte vor der Küste Nigerias ein Schlepper namens „Jascon 4″. Wie sich herausstellte, überlebte nur einer der zwölf Menschen an Bord. Der Schiffskoch Harrison Okene harrte fast drei Tage lang in einer Luftblase im Wrack aus, betete und sang Kirchenlieder, um nicht den Verstand zu verlieren.
Harrison Okene mit den niederländischen Tauchern, die ihn aus dem Wrack befreiten. Okene überlebte 60 Stunden in einer Luftblase
© stern-Montage: Illustration: Marta Kochanek / Gibson Kochanek; Foto: AP Photo/DCN Diving
„Ich habe versucht, die Angst vor mir zu besiegen“, erzählte er später. „Diese Panik, die dich überkommt, tötet dich, bevor dein tatsächlicher Tod eintritt. Denn in dem Moment, in dem du in Panik gerätst, verbrauchst du zu viel Sauerstoff.“ Nach gut 60 Stunden wurde Okene zufällig von Tauchern entdeckt, die eigentlich die Leichen bergen sollten und nicht mehr mit Überlebenden gerechnet hatten.