Abnehmspritzen: „Viele Patienten können enorm profitieren. Wir müssen sie aber begleiten“

Diabetes-Experte Stephan Martin verschreibt vielen Patienten auch die Abnehmspritze. Aber nicht allen. Wann sie helfen kann, und wer es besser mit klassischem Abnehmen versucht.

Als Wundermittel wurden Spritzen wie Wegovy und Ozempic gepriesen, kaum waren die Daten zu ihrer Wirksamkeit präsentiert. War auch Ihre Hoffnung groß, Patienten nun besser helfen zu können?
Ich habe immer schon gesagt: Wir müssen mehr am Gewicht arbeiten, wenn wir Menschen mit Typ-2-Diabetes helfen wollen. Als sich dann tatsächlich zeigte, dass nicht wie bei Insulin nur der Blutzucker heruntergeht, sondern auch das Gewicht und damit das Risko für Folgeerkrankungen, war die Freude auch bei mir groß. Endlich haben wir Medikamente, die auch die Herzinfarktrate senken.

Das hört sich nach einem „Aber“ an.
Schon bei Liraglutid, dem Vorgänger von Ozempic, haben wir gemerkt: Wenn man das nicht kombiniert mit einem gesunden Lebensstil, dann hilft das nur eine gewisse Zeit. Nach der Gewichtsabnahme stellt sich auch mit den Spritzen irgendwann ein Plateau ein. Dann kommen die Patienten und sagen: „Es passiert nichts mehr, ich nehme nicht mehr weiter ab.“ Gerade in dieser Phase ist es wichtig, das Gewicht mit Bewegung und einer guten Ernährung, zu halten. Das gilt erst recht, wenn sie die Mittel absetzen wollen.

Noch fehlen offizielle Verschreibungszahlen in Deutschland. Wie groß ist der Anteil Ihrer Patienten, die diese Mittel nehmen?
Das sind sicherlich 50 Prozent unserer Typ-2-Diabetiker.

Kommt es auch vor, dass Sie davon abraten? 
Wenn ein Patient zu mir kommt und sagt: „Ich möchte gerne die Spritze nehmen“, dann frage ich zuerst: „Was haben Sie schon alles probiert?“ Diese Mittel sind keine Medikamente der ersten Wahl. Ich würde es immer erst mit einer Ernährungsumstellung und Bewegung probieren. Ich habe zwei Patientinnen, die haben 40 Kilo abgenommen – ganz ohne Medikamente. Wenn ein Patient aber fünf oder sechs Kilo abnimmt und es nicht so richtig weiter geht, können sie mit Medikamenten wie Semaglutid oder Tirzepatid sehr gut unterstützen.
Hatte ein Patient schon einmal eine Bauchspeicheldrüsenentzündung oder ein Schilddrüsenkarzinom, rate ich von diesen Mitteln ab. Auch bei ausgeprägten Magen- und Darmproblemen wäre ich erst einmal vorsichtig, da die Mittel Übelkeit, Durchfall oder Verstopfung auslösen können.

Ist der Umgang mit den Mitteln zu sorglos?
Neulich sagte ein übergewichtiger Patient zu mir: „Wenn Sie es mir nicht aufschreiben, dann gehe ich zu meinem Zahnarzt. Der macht das!“ Leider fehlt es gerade bei der Behandlung von Übergewicht an Aufklärung. Zwar sind die Gefahren dieser Mittel relativ gering. Trotzdem braucht es Wissen. Nehmen wir nur das Thema Verhütung. Viele Frauen, die diese Mittel nehmen, um abzunehmen, sind im gebärfähigen Alter. Doch den wenigsten ist bewusst, dass die schwindenden Kilos nicht nur die Fruchtbarkeit von Adipösen erhöhen, sondern auch die Wirkung der Antibabypille herabsetzen können. Nicht umsonst gibt es bereits den Begriff der „Ozempic-Babys“.

Warum leidet die Verhütung?
Das hängt mit den Nebenwirkungen zusammen. Übergibt man sich nach der Einnahme oder leidet unter Durchfall, werden die Wirkstoffe nicht richtig aufgenommen. Das gleiche kann passieren, wenn die Pille durch die Magenentleerungsstörung viel länger als vorgesehen im oberen Verdauungstrakt verbleibt. Eigentlich müssten diese Frauen auf eine andere Verhütungsmethode umstellen, wenn sie nicht ungewollt schwanger werden wollen.

Die viel berichteten Abnehmerfolge von bis zu 20 Prozent des Körpergewichts stammen vor allem aus klinischen Studien. Wird das auch in der Praxis erreicht?
In der Regel ist der Gewichtsverlust deutlich geringer. Dass jemand damit wirklich 20 Kilo oder mehr abnimmt, ist eher selten.

Woran liegt das?
Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen sind die Teilnehmer von klinischen Studien hoch selektioniert. Das ist ein Patientenkollektiv, das meist hoch motiviert ist und in dieser Zeit gut betreut wird.

In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass Nebenwirkungen verhindern, dass die Menschen lange genug am Ball bleiben. Außerdem steigern viele übergewichtige Patienten ihre Dosierungen nicht so konsequent, weil damit auch die Kosten steigen. Sie müssen die Mittel schließlich selbst bezahlen. Geht den Menschen das Geld aus, brechen sie die Therapie ab. Ich hatte erst heute einen übergewichtigen Patienten in der Sprechstunde, dem das zu teuer wurde. Wenig später wog er mehr als vorher. Ein Kollege hat einmal auf einem Kongress gesagt: „Absetzen ist keine Option.“

Von welchen Nebenwirkungen berichten Ihre Patienten denn besonders häufig?
Das ist unterschiedlich. Es gibt Leute, die haben vor allem Übelkeit, die sich oft aber wieder legt. Andere haben Durchfälle oder Verstopfung. Für bedenklich halte ich vor allem den Muskelmasseverlust, der beim Abnehmen oft auftritt. Wenn jemand in kurzer Zeit 15 Kilogramm abnimmt, nur weil er weniger isst, sind davon sechs Kilogramm fettfreie Masse, dazu zählt auch die Muskulatur. Hört derjenige irgendwann auf, zu spritzen, weil er nicht bereit ist, das ein Leben lang zu machen, ist das Risiko groß, dass er schnell wieder zunimmt. Und zwar vor allem Fettmasse. Wenn man nicht aufpasst, tauscht man Muskeln gegen Fett. Macht man das ein paar Mal, verliert man möglicherweise so viel Muskulatur, dass die Stabilität leidet. Man stürzt leichter, hat ein höheres Risiko für Knochenbrüche und wird anfälliger für eine ganze Reihe von Erkrankungen. Das ist etwas, von dem wir noch gar nicht wissen, worauf wir uns einlassen.

Heißt das, im schlimmsten Fall haben die Patienten später mehr gesundheitliche Risiken als vorher?
Da sind wir im Bereich der Spekulation, ausgeschlossen ist das jedoch nicht. Deshalb halte ich den Einsatz dieser Spritze außerhalb von einem strukturierten Ernährungs- und Bewegungs-Programm für ethisch hoch bedenklich.

Das hört sich dramatisch an.
Wir sollten diese Medikamente nicht verteufeln. Viele Patienten können davon wirklich enorm profitieren. Dafür müssen wir sie aber begleiten, damit sie weniger Muskulatur verlieren und lernen, das neue Gewicht auch zu halten.

Wie sieht so ein Programm aus?
Die Patienten sollten wissen, dass sie ihre Muskulatur trainieren müssen. Für die Ernährung gilt: Sie brauchen viele Proteine! Außerdem raten wir unseren Patienten zu einer Low Insulin Diät.

Was ist das?
Es geht darum, konsequent alles reduzieren, was dazu führt, dass ihr Körper übermäßig Insulin ausschüttet: also Zucker, Süßigkeiten, aber auch stärkehaltige Lebensmittel wie Kartoffeln und Reis.

Warum ist das so wichtig, Kartoffeln und Reis gelten doch als gesund?
Weil Insulin die Fettverbrennung hemmt. Das ist bei schlanken Menschen kein Problem. Bei übergewichtigen Diabetikern aber sehr wohl. Leider wird ihnen viel zu oft geraten, fettarm zu essen. Das führt dazu, dass sie oft noch mehr Kohlenhydrate essen.

Können Sie ihren Patienten solche Programme nicht verschreiben?
Leider nein. Zum einen gibt es kaum langfristige, strukturierte Programme, zum anderen sind viele Angebote keine Kassenleistung. Das heißt, die Patienten müssen das selbst bezahlen. Wir haben uns etwas anderes überlegt, um den Menschen zu helfen: Schulungsvideos mit Anleitungen. Die haben wir selbst gedreht und QR-Codes dazu gemacht. Die können sich unsere Patienten nun jederzeit ansehen.

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