Kolumne Ganz Naher Osten: Im Angstraum der deutschen Politik

Es ist das eine, die Angst von Menschen zu instrumentalisieren – und das andere, sie zu ignorieren oder gar zu diffamieren. Und hey, wieder was vom Osten gelernt.

Vor einer Weile machte ich mich an dieser Stelle ein klitzekleines bisschen lustig über die „Safari-Grünen“, die den wilden Osten bereisen, um zu lernen, warum sie dort immer weniger gewählt werden, dafür aber immer öfter die Rechtsextremen von der AfD. In diesem Zusammenhang erwähnte ich ihren Parteichef Felix Banaszak, der wieder einmal eine Ost-Offensive ausgerufen hatte, um die fehlgeleiteten Menschen von der richtigen, mithin grünen Sache zu überzeugen.

Vergangene Woche nun veröffentlichte Banaszak seinen Beitrag zum aktuellen deutschen Selbstfindungsseminar über den Kanzler und dessen interessengeleiteter Interpretation des deutschen Begriffs „Stadtbild“. Der Text des Grünen-Vorsitzenden, und das meine ich so, wie ich es schreibe, lohnt unbedingt der Lektüre, weniger wegen der erwartbar ätzenden Kritik an Friedrich Merz, sondern wegen einiger bemerkenswerten Beobachtungen.

Die AfD in Duisburg

Zum Beispiel schildert er darin eine Presseanfrage an ihn: „Herr Banaszak, hallo, ich schreibe einen Artikel über die AfD, wir würden gerne mal zu Ihnen kommen und verstehen, warum bei Ihnen so viele Leute Nazis wählen, hat das mit der Migration zu tun, haben Sie Zeit?“ Die ironische Antwort des Parteichefs: „Klar, gerne, sobald Ihr Kollege mit der gleichen Story fertig ist.“

Das Neue an dieser leider stimmigen Medienkritik ist, dass Banaszak bekanntlich nicht aus einer ostdeutschen Ansiedlung stammt, sondern aus Duisburg in Nordrhein-Westfalen, wo die AfD seit der Kommunalwahl die zweitstärkste Fraktion im Stadtrat stellt. Die Stadt ist damit jetzt in Teilen der öffentlichen und veröffentlichten Meinung nicht nur arm, unansehnlich und gefährlich, sondern jetzt auch noch tendenziell rechtsextrem. 

Die Gründe dafür, so insinuiert Banaszak, hätten durchaus mit Migration und fehlender Integration zu tun, daneben aber auch mit Deindustrialisierung, vererbter Armut oder gesellschaftlicher Ausgrenzung. Man müsse, schreibt er, diese Gründe ernst nehmen und könne sie „nicht mit Statistiken und Trotz beiseite wischen“. 

 

Und daraus folgert er: Merz habe eine „breit getragene Wahrnehmung“ angesprochen, mit denen sich „progressive Kräfte“ (er meint offenkundig seine Grünen) beschäftigen müssten. „Es gibt sie, die Angsträume in unserem Land.“ Es gebe die an Kleinstadtbahnhöfen herumlungernden Faschos und besoffene Fußballfans in Zügen. Und: „Es gibt kriminelle Gruppen auch aus migrantischen Familien, die am Freitagabend Leute abziehen oder Frauen belästigen.“

Ich zitiere das so ausführlich, weil es mich einiges davon – einschließlich der persiflierten Presseanfrage – sehr an das erinnert, was seit mehr als 35 Jahren über den Osten geredet und berichtet wird. Und es erinnert mich an einen Septembertag in Erfurt im Jahr 2015, zwei Wochen, nachdem Angela Merkel entschieden hatte, die Grenzen für abertausende Flüchtlinge aufzulassen. 

Die AfD, die sich in jenem Sommer unter Absingen schmutziger Lieder aufgespalten und danach in einer Art Paralyse befunden hatte, war plötzlich wieder putzmunter und organisierte einen ihrer ersten großen Aufmärsche in Ostdeutschland. Ihr Thüringer Anführer Björn Höcke rief, dass Erfurt noch „schön deutsch“ sei, aber sich nun alles ändere: „Die Angsträume werden gerade für blonde Frauen immer größer!“

Ein paar Tage danach saß er in der ARD in der Talkshow von Günther Jauch, drapierte die Lehne seines Sessels mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne und wollte gar nichts zurücknehmen. Außer natürlich: Es betreffe auch brünette oder rothaarige Frauen.

Vom Osten lernen, heißt Angst zu lernen

In dieser Zeit zerstritt ich mich mit einer Frau, mit der ich aufgewachsen war, und auf deren Meinung ich viel gab. Normalerweise. Doch sie sagte, dass Höcke, auch wenn sie die AfD blöd finde, an dieser Stelle schon recht habe. Sie jedenfalls fürchte sich neuerdings als blonde Frau, wenn sie in ihrer Stadt über den Markt an den Flüchtlingen vorbeilaufe.

Ich antwortete ihr sinngemäß so, wie Sozialdemokrat Heiko Maas, damals Justizminister, in der Sendung Höcke geantwortet hatte, nämlich dass er mit seinen widerlichen Aussagen „rhetorische Brandstiftung“ verbreite. Und sie selbst habe wohl auch ihr Vorurteile.

Nun ist es nicht so, dass ich heute, zehn Jahre später, die Sätze Höckes als weniger widerlich empfinde, zumal fast alles, was der Mann seitdem noch so gesagt hat, diese Einschätzung bestätigt. Dennoch bin ich schon vor einiger Zeit zu der Einsicht gelangt, dass ich der Frau einfach mal hätte zuhören sollen, anstatt ihr indirekt Xenophobie zu unterstellen oder Kriminalstatistiken hervorzugoogeln. Ich hätte sie ernst nehmen sollen.

Der AfD wurde die Angst überlassen

Denn die AfD hat die kulturell und evolutionär einprogrammierte Furcht vor dem sogenannten Fremden eine Dekade auch deshalb lange, frei und exklusiv ausbeuten dürfen, weil mit dieser Furcht nicht klug oder gar empathisch umgegangen wurde. Parallel dazu konnte die Partei erst vor allem im Osten und danach zunehmend auch im Westen von den wachsenden Verlustängsten und gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen profitieren, weil diese von der etablierten Politik in der Regel nur rhetorisch adressiert wurden. Wenn überhaupt. 

Ja, es gibt Angsträume in diesem Land, und sie werden mehr, für Migranten, für Juden, für Transsexuelle, aber eben auch für Menschen, die keiner Minderheit angehören. Um ein letztes Mal Banaszak zu zitieren: „Progressive Kräfte“ (siehe oben) dürften neben der „notwendigen und berechtigtem Kritik an rassistischen Aussagen und Strukturen“ nicht „diesen Teil des Lebens“ ausblenden. „Denn es gibt ihn.“

Es ist eben das eine, die Ängste von Menschen zu instrumentalisieren – und das andere, sie zu ignorieren oder zu diffamieren. Ihren rationalen Kern zu identifizieren und sie emotional anzusprechen, ohne dabei merzmäßig zu raunen, um danach entsprechend zu handeln: So könnten die Menschen, womöglich, wieder abgeholt werden. Sogar im Osten. Und sogar von den „progressiven Kräften“ im Angstraum der deutschen Politik. 

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