Zwei besondere Abschiede, viele Reiz- und Streitthemen – und ein Denkzettel für den Parteichef? Die SPD startet in einen ereignisreichen Parteitag. Worauf Sie achten sollten.
Als gäbe es nicht schon genug zu besprechen, platzt pünktlich zum dreitägigen SPD-Parteitag eine heikle Entscheidung in den Berliner „City Cube“: Der Mindestlohn soll bis 2027 schrittweise auf 14,60 pro Stunde angehoben werden – und liegt damit deutlich unter 15 Euro, wie sie die Sozialdemokraten im Wahlkampf schon für 2026 gefordert hatten.
An Gesprächsstoff wird es den 600 Delegierten in der Messehalle also nicht mangeln, auch jenseits des Beschlusses der Mindestlohnkommission vom Freitagvormittag, die auf dem Parteitag noch für Diskussionen sorgen und die Parteispitze unter Druck setzen dürfte.
Die historische Niederlage bei der Bundestagswahl (16,4 Prozent) hat Spuren hinterlassen, mitunter Wunden. Es werden emotionale und kontroverse Debatten erwartet, Reiz- und Streitthemen gibt es genug. Worauf ein besonderer Blick lohnt:
Los geht’s am Freitagnachmittag mit einer ausgiebigen Aussprache über die Gründe des Wahldebakels, garantiert flankiert von allerhand Vorschlägen, was sich in der SPD nun dringend ändern müsse. Aufhänger ist der Leitantrag des Parteivorstands, dessen Titel „Veränderung beginnt mit uns“ ein neues SPD-Grundsatzprogramm anstoßen und ein Zeichen der Selbstkritik setzen soll. Trotzdem muss Co-Chef Lars Klingbeil am Abend mit einem kleinen Denkzettel der Delegierten rechnen. Dann wird der Parteivorsitz neu gewählt.
Der Vizekanzler und Finanzminister hat bei der Regierungsbildung zwar viel für seine Partei herausgeholt, aber auch für sich selbst – trotz der historischen Wahlniederlage, die er als Co-Vorsitzender mitzuverantworten hat. Klingbeils Kritiker monieren eine Selbstbedienungsmentalität, einen Mangel an Demut und programmatischer Vision.
Bärbel Bas, die zu seiner neuen Partnerin an der SPD-Doppelspitze gewählt werden will, dürfte mit einem besseren Ergebnis ausgestattet werden – und Klingbeil mit einem schlechteren Votum als beim letzten Wahlparteitag 2023 (85,6 Prozent). Klingbeils Ergebnis könnte der Gradmesser sein, wie tief der Frust tatsächlich sitzt. Doch eine satte Abrechnung mit dem neuen starken Mann der SPD würde auch der Partei schaden und ist daher nicht zu erwarten.
Scholz sagt „Tschüss“
Es ist ruhig geworden um Olaf Scholz, seitdem er nur noch als einfacher Abgeordneter im Bundestag seinen Potsdamer Wahlkreis vertritt. Wie blickt der Kanzler a. D. auf die unübersichtliche und angespannte Weltlage? Seine nach Orientierung suchende SPD? Und nicht zuletzt die Wahlniederlage, die auch seine ist?
Am Samstagmorgen, um 9 Uhr, wird Scholz offiziell vom Parteitag verabschiedet. Der Altkanzler wird eine Rede halten, ein eigens für ihn produzierter Film auf seine turbulente Amtszeit zurückblicken. Auch ein Geschenk wird überreicht: Scholz durfte sich ein Bild aus dem Willy-Brandt-Haus, der Berliner Parteizentrale, aussuchen. Da darf man gespannt sein, wofür er sich entschieden hat.
Ein Abschied mit Beigeschmack
Auch Saskia Esken verabschiedet sich, zumindest vom Co-Parteivorsitz, für den sie nach fünfeinhalb Jahren nicht erneut kandidiert. Der mitunter hämische Umgang mit ihr hat in Teilen der Partei für Unmut gesorgt, auch Eskens einstiger Generalsekretär und späterer Mitvorsitzender Lars Klingbeil hatte die Diskussionen um ihre Person als „beschämend“ kritisiert – nachdem er sie lange hatte laufen lassen. Das hat auch Klingbeil Kritik eingebracht.
Ein Posten im schwarz-roten Kabinett wurde Esken verwehrt, sie leitet nun den Bildungs- und Familienausschuss im Bundestag. Zwar sind das Herzensthemen der Sozialdemokratin, aber es ist auch ein Trostpreis: Die scheidende SPD-Chefin hatte sich ein Regierungsamt zugetraut, als Parteivorsitzende faktisch auch Anspruch darauf gehabt. Wie Klingbeil. Doch der interne Druck war offenbar zu groß.
Mit einer versöhnlichen Rede von Esken (gegen 11.45 Uhr) ist also nicht unbedingt zu rechnen, eine Abrechnung mit ihren Kritikern dürfte es allerdings auch nicht werden – wohl aber die eine oder andere wohlplatzierte Spitze. Wie auch für Altkanzler Scholz wurde ein Filmrückblick für Esken produziert, ein Geschenk soll es ebenfalls geben.
Wo es knirschen könnte
Das Antragsbuch ist mit 380 Eingaben prall gefüllt, eine ganze Handvoll adressiert direkt oder indirekt die aktuelle Weltlage. Knirschen könnte es etwa beim Thema Wehrpflicht. Schließlich ist schon der massive Anstieg der Verteidigungsausgaben in der SPD umstritten, zuletzt hatte auch ein Friedensmanifest um Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich für Unruhe gesorgt.
Die Jusos wollen nun mit einem Initiativantrag verhindern, was offenbar im Verteidigungsministerium von Boris Pistorius vorbereitet wird: ein Wehrdienst-Modell, das auch Pflichtelemente enthalten soll. „Die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder einen verpflichtenden Wehrdienst lehnen wir ab“, heißt es in dem Antrag des SPD-Nachwuchses. Das dürfte auch Parteilinken imponieren. Ein entsprechender Beschluss würde den Spielraum von Pistorius einschränken.
Kontrovers dürfte auch eine Positionierung zu den Geschehnissen in Nahost diskutiert werden. Der Parteivorstand erarbeitet dazu eine Beschlussvorlage, die wohl am Samstagmittag debattiert werden soll. Deutlich einhelliger dürfte ein Antrag des Vorstands für die Vorbereitung eines AfD-Verbotsverfahrens am Sonntag beraten werden. Das Vorhaben stößt jedoch beim Koalitionspartner CDU/CSU auf enorme Skepsis und könnte noch für Konfliktstoff im schwarz-roten Zweckbündnis sorgen.