Zurückweisungen rechtswidrig: Und nun? Das bedeutet der Richterspruch für die deutsche Asylpolitik

Berliner Richter erschüttern das Regierungsviertel. Was sie über Zurückweisungen von Asylbewerbern entscheiden, kann weitreichende Folgen haben. Die Kläger kamen über Belarus.

Ein Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts erschüttert am frühen Montagabend das politische Berlin. Die von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) verfügten Zurückweisungen von Asylbewerbern sind nach Auffassung der Berliner Richter rechtswidrig.

Bundesinnenminister Dobrindt sah vorerst keine Begründung, die Praxis der Zurückweisungen zu verändern, wie er am Montagabend bei einer eilig einberufenen Pressekonferenz sagte. „Wir werden weiter so verfahren, ganz unabhängig von dieser Einzelfallentscheidung“, sagt der CSU-Politiker. Wie der stern erfuhr, kamen die Flüchtlinge offenbar über eine neuere Fluchtroute über Belarus.

Kann das gutgehen? Und was steht im Beschluss der Richter? Der stern hat Antworten auf die wichtigsten Fragen:

Darum geht es im Beschluss der Richter

Nach einer Eilentscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts war die Zurückweisung von drei Asylsuchenden bei Grenzkontrollen in Brandenburg rechtswidrig. Ohne Durchführung eines sogenannten Dublin-Verfahrens dürfen sie nicht abgewiesen werden, entschied das Gericht. 

Aus Sicht des Gerichts kann sich die Bundesrepublik auch nicht darauf berufen, dass die Dublin-Verordnung angesichts einer Notlage ausgesetzt werden darf. Insbesondere könne sich die Regierung nicht auf eine „nationale Notlage“ – also eine Art Ausnahmezustand – berufen. Dies habe die Regierung im Verfahren aber getan. Dafür fehle es an der „Darlegung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“.

Die Antragsteller können allerdings nicht verlangen, über den Grenzübertritt hinaus in das Bundesgebiet einzureisen. Denn nach EU-Recht sei es möglich, das Dublin-Verfahren an der Grenze oder im grenznahen Bereich durchzuführen, hieß es vom Gericht.

Wer geklagt hat

Im konkreten Fall geht es um drei Personen aus Somalia, die mit dem Zug aus Polen eingereist waren. Am 9. Mai wurden sie am Bahnhof Frankfurt (Oder) durch die Bundespolizei kontrolliert, stellten ein Asylgesuch und wurden noch am selben Tag nach Polen zurückgewiesen. Dagegen haben sich die Betroffenen per Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht gewehrt. Die Beschlüsse sind nach Gerichtsangaben „unanfechtbar“. 

Bei einer der klagenden Personen handelt es sich um eine Somalierin. Der Beschluss des Gerichts zu ihrem Fall liegt dem stern vor. Sie kam demnach über Weißrussland, Litauen und Polen nach Deutschland. Laut eigener Aussage soll sie noch minderjährig sein, eine Tante in Deutschland haben. Die Somalier hatten alle drei zuvor schon mehrfach versucht, die Grenze zu überqueren. Einen Asylantrag stellten sie bei den ersten beiden Malen nicht. 

Nach der Zurückweisung habe sich die Frau erst in Litauen, dann in Polen aufgehalten. Sie wird von einer NGO untergebracht, geklagt hatten offenbar Anwälte der Organisation „Pro Asyl“. 

Was der Beschluss für die deutsche Asylpolitik bedeutet

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin gilt nur für den Einzelfall, also für die drei Kläger. Sie haben jetzt Anspruch auf Prüfung ihres Asylgesuchs – nicht aber auf eine Einreise oder eine Annahme des Gesuchs, das hat das Gericht explizit festgestellt. 

Das Gericht hat sich jedoch auch grundsätzlich zur Praxis des Bundesinnenministeriums geäußert. Die Richter lehnen diese rundheraus ab. Ein erfahrener Verwaltungsrichter sprach gegenüber dem stern von einer „echten Klatsche“ für die Rechtsauffassung der Bundesregierung.  

Deshalb sind auch die Grundannahmen des Beschlusses übertragbar. In ähnlichen Verfahren dürften die Berliner Richter also zur selben Entscheidung gelangen. Damit stehen wenigstens alle Zurückweisungen in der Zuständigkeit des Berliner Gerichts – also in Berlin und Brandenburg – auf der Kippe. Zudem hat nicht nur ein Einzelrichter, wie sonst im Asylrecht üblich, entschieden, sondern die gesamte Kammer, also drei Berufsrichter. 

Der Beschluss hat dennoch keine grundsätzliche Wirkung für alle Zurückweisungen in Deutschland. Ein anderes Verwaltungsgericht könnte anders entscheiden. Eine Beschwerde gegen die Entscheidung der Berliner Richter vor einer höheren Instanz ist jedoch nicht möglich. Ironischerweise ist dies bei Abschiebeentscheidungen im Asylrecht nach Paragraf 80 neuerdings ausgeschlossen, um die Verfahren zu beschleunigen. Daher ist aber auch kein „Durchklagen“ bis zu einer Grundsatzentscheidung vor dem Bundesverwaltungsgericht möglich.

Interessant ist der explizite Hinweis der Berliner Richter, dass die Asylbewerber kein Recht zur Einreise nach Deutschland haben. Sie haben nach den Dublin-Regeln nur ein Recht auf eine Prüfung ihres Gesuchs. In Regierungskreisen wurde das als Hintertür gewertet, um künftig etwa schon jenseits der deutschen Grenze Verfahren durchzuführen oder in grenznahen „Dublin-Zentren“, wie es etwa Alexander Dobrindts Vorgängerin Nancy Faeser (SPD) geplant hatte. In Brandenburg war das ohnehin angedacht. Ein solches Verfahren dauert im Schnitt jedoch rund drei Monate.

So reagieren die Parteien 

Die Eilentscheidung kam für die Koalition offenbar überraschend. In den Gremiensitzungen der CDU war sie im Laufe des Tages nach stern-Informationen kein Thema. Auch das Bundesinnenministerium hatte am frühen Abend noch keine Sprachregelung. Der Koalitionspartner SPD äußert sich bisher auch zurückhaltend, wenngleich zwischen den Zeilen deutliches Unbehagen zu erkennen ist. 

„Wir werden mit Bundesinnenminister Dobrindt besprechen, wie die Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag entsprechend umgesetzt werden können“, sagte etwa Sebastian Fiedler, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. „Ich bin sicher, dass wir das gemeinsam hinbekommen.“ Fiedler betonte, dass für die SPD immer das Maß der Dinge gewesen sei, dass die Polizeibeamten für ihre Arbeit Rechtssicherheit benötigten. Die Erlasslage des Ministeriums und die Verfügung des Präsidenten der Bundespolizei müssten „zweifelsfrei“ mit Europarecht und deutschem Recht vereinbar sein, sagte Fiedler. Was er nicht sagt: Das waren sie offenbar nicht. Lars Castellucci, Mitglied im Innenausschuss des Bundestags für die SPD, betonte: „Wer sich auf Recht und Ordnung beruft, muss Recht und Ordnung einhalten.“ 

Deutlich schärfere Töne schlagen die Grünen an. Die Gerichtsentscheidung sei „eine echte Klatsche für Merz und Dobrindt“, schrieb Irene Mihalic beim Kurznachrichtendienst X. Die Grünen-Fraktionsmanagerin und frühere Polizeibeamtin forderte, dass „diese populistische Anordnung“ – gemeint sind die Zurückweisungen an den Grenzen – „umgehend“ gestoppt und die „Grenzblockade“ beendet werden müsse. Ähnlich kritisch äußerte sich Vize-Fraktionschef Konstantin von Notz. Die Zurückweisungen hätten zudem großen politischen Schaden angerichtet: „Auch Alexander Dobrindt trägt einen Teil der Verantwortung am Ausgang der polnischen Wahlen, weil er den extremen Rechten und Rechtsextremen in Polen ein Wahlkampfthema geliefert hat, mit dem sie in den letzten Wochen noch mal maximal mobilisieren konnten“, so von Notz bei RTL/ntv. 

Aus für Zurückweisungen? Das will die Bundesregierung jetzt tun

Die Bundesregierung will an den Zurückweisungen vorerst festhalten. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt nimmt den Beschluss aber offenbar sehr ernst. Am frühen Abend gab der CSU-Politiker eine spontane Pressekonferenz, wies dabei jedoch vor allem darauf hin, dass es sich um ein Eilverfahren handele und man nun das Hauptverfahren anstrebe. Darüber hinaus werde man an der Praxis festhalten.

Dobrindt versprach lediglich: „Das Gericht führt aus, dass unsere Begründung dezidierter hätte sein sollen. Da werden wir nachschärfen.“ Ähnliches war am Montagabend auch in Kreisen der Koalition zu vernehmen: Man werde die Schriftsätze für ähnliche Falle anpassen. 

Dobrindt stellte sich demonstrativ hinter die Bundespolizei: Die Somalier seien durch sichere EU-Staaten nach Deutschland gekommen, sie hätten mehrfach versucht, ohne Asylgesuch einzureisen. „Das Vorgehen der Bundespolizei war richtig“, sagte Dobrindt noch. Weitere Klagen dürften folgen. 

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